Aus dem Inhalt:
Gleich zu Beginn sind die beiden Pole des Lebens genannt: die Ausbildung des eigenen Charakters und die Liebe zur Menschheit, also Individuum und Gemeinschaft. Bei der Charakterbildung zeigt sich sofort die Konfuzianische Grundanschauung. Nicht um ein Austreiben der Natur, ein UnterdrĂŒcken des Gegebenen handelt es sich â das ist nicht nötig, denn die innersten Anlagen des Menschen sind von Natur gut â, sondern nur um eine Entfaltung und Steigerung dieser Anlagen, ein Herausarbeiten des latent von Anfang an vorhandenen Gehalts. Auch hier also positive Arbeit. Und sofort tritt der Selbstbildung zur Seite die Beziehung zur Gemeinschaft: die Liebe zur Menschheit. Das dritte, "höchste TĂŒchtigkeit als Ziel", gibt nicht ein neues Arbeitsgebiet an, sondern bezeichnet den höchsten IntensitĂ€tsgrad persönlicher Konkretisierung in den genannten Idealfor-derungen. Es heiĂt dann weiter: "Wenn man sein Ziel kennt, so gibt das Festigkeit. Festigkeit allein fĂŒhrt zur Ruhe. Die Ruhe allein fĂŒhrt zum innern Frieden. Der innere Friede allein ermöglicht ernstes und besonnenes Nachdenken. Ernstes und besonnenes Nachdenken allein fĂŒhrt zum Gelingen.
Jedes Ding hat Stamm und Verzweigungen. Jede Handlung Ende und Anfang. Dadurch, daà man erkennt, was zuerst und was nachher zu kommen hat, nÀhert man sich dem Weg.
Nur durch Beobachtung der Wirklichkeit erreicht man gegenstĂ€ndliche Erkenntnis. Nur durch gegenstĂ€ndliche Erkenntnis werden die Gedanken wahr. Nur durch wahre Gedanken erlangt man die rechte GemĂŒtsverfassung. Nur durch die rechte GemĂŒtsverfassung erlangt man die Veredlung der Persönlichkeit. Nur durch Veredlung der Persönlichkeit erlangt man die Regelung des Hauses. Nur durch Regelung des Hauses erlangt man die Ordnung des Landes. Nur durch Ordnung der LĂ€nder erlangt man den Frieden auf Erden. [...]"
Hier ist zunĂ€chst ein sehr wichtiger Gesichtspunkt ausgesprochen fĂŒr eine erfolgreiche Arbeit auf geistigem Gebiet. WĂ€hrend die Menge der Menschen einfach durch die Macht der Gewohnheit geleitet wird und durch die instinktiv anerkannten Forderungen der Sitte Ordnung fĂŒr ihr Leben gewinnt, mĂŒssen die FĂŒhrerpersönlichkeiten eine durchaus bewuĂte Stellung bekommen. Denn nur aus einer solchen tiefen BewuĂtheit heraus wĂ€chst die Kraft der Ăberzeugung, die notwendig ist, um andere beeinflussen zu können. Eine solche Ăberzeugung erlangt man aber nur durch ein tiefes, gegenstĂ€ndliches Denken. Um nun ein solches Denken zu ermöglichen, muĂ erst der innere Friede erlangt sein. Dieser Friede erwĂ€chst aus der Stille, die frei ist vom LĂ€rm einander bekĂ€mpfender und widerstreitender Gedanken. Sie hat ihrerseits zur Vorbedingung, daĂ man durch einen vollkommen festen EntschluĂ sich entschieden hat fĂŒr den zu befolgenden Weg. Solange die Wahl nicht endgĂŒltig ist, solange ein inneres Schwanken zwischen verschiedenen Möglichkeiten noch herrscht, wird man noch in Unruhe hin und her gerissen, und es wohnen zwei Seelen in der Brust des Menschen, die ihn nicht zur Stille kommen lassen. Um einen solch festen EntschluĂ fassen zu können, ist es notwendig, daĂ man weiĂ, was man eigentlich will, daĂ man sein Ziel kennt. [...]
Erstveröffentlichung: 1922
Autor: Richard Wilhelm
1. E-Book-Auflage 2018
Umfang: ca. 110 Buchseiten, 4 Kapitel