»Ohne meine Kindheitslandschaft wĂŒrde ich sein wie jener Mann, der seinen Schatten verkaufte«, bekennt die ErzĂ€hlerin. Seit Jahren hat sie die Stadt »eingekreist«, die einst Königsberg war. Doch erst nachdem »Ellachen«, letzte Zeugin der Kindheit, starb, fĂŒrchtet sie, unwiederholbar Vergangenes und damit sich selber zu verlieren. Was sie, nach einer uralten Bezeichnung, Karalautschi nennt, ist nicht allein jene unwiederbringlich zerstörte Stadt, die sie vierzehnjĂ€hrig gegen Kriegsende verlieĂ. Es ist vor allem die innere und Ă€uĂere Landschaft des Kindes, das in ihr lebt. Es ist der konservative Vater ebenso wie die vergebens umworbene Mutter. Es ist Tante Ella mit dem gĂŒtigen Herzen. Es sind wechselnde DienstmĂ€dchen, »verbotene« StraĂenkinder. MitschĂŒler und Lehrer, Grabsteinmetzen und eine Welt jenseits der Hofmauer, wo das Kind trotz aller Enge so viel Unverlierbares entdeckt. Es ist aber auch das heutige Kaliningrad, die neuerrichtete, verwandelte Stadt, nach der es sie zieht. Das »Suchen nach Karalautschi« ist die Suche nach sich selbst, nach einer Lebenslandschaft, in der die einstige Welt des Kindes aufgehoben ist.
LESEPROBE:
Eines Tages komme ich zu Tante Ella, finde sie nicht daheim. Onkel Anton weist mich in die HardenbergstraĂe ganz in der NĂ€he, dort ginge sie spazieren.
Nun habe ich Tante Ella auĂer mit mir oder meiner GroĂmutter eigentlich noch nie spazierengehen sehen. Einkaufen ja, aber einfach so?
Ich renne zu der genannten StraĂe, sehe niemanden. denke an den Ziethenplatz und finde sie dort wirklich - aber auwei, wen hat sie denn da? Geht natĂŒrlich nicht einfach so spazieren. Tante Ella schiebt einen Rollstuhl. Darin sitzt ein grĂ€ssliches Wesen. Ein MĂ€dchen oder eine Frau. Etwas JĂŒngeres jedenfalls. Die GliedmaĂen dieses Körpers scheinen gegeneinander anzukĂ€mpfen, zucken in unrhythmischen Bewegungen, wĂ€hrend das an sich unschöne Gesicht sich mĂŒhselig zu einer Fratze zusammenruckt, der Kopf wird dabei zur Seite geworfen. UnverstĂ€ndliche Laute, Speichel, und schlieĂlich fĂ€llt ein kollerndes Lachen aus dem riesigen Mundloch.
Ich stehe entsetzt davor.
Sieh mal, Hildchen, das ist meine Nichte Elisabeth, sagt Tante Ella zu dem Wesen. Zu mir gewandt: Komm, das ist Hildchen Koslowski, sag ihr guten Tag. Sieh mal, wie sie sich freut! Ich bin steif vor Ekel, kann mich nicht ĂŒberwinden, meine Hand dorthin zu strecken. Die ist doch dreidamlich, sage ich, was tust du mit der?
Tante Ella baut ihre rundliche Gestalt vor mir auf.