(0)

Fremde

E-book


Die Fremde – das ist der Ort, den wir (noch) nicht kennen, ein Ort, der sowohl verfĂŒhrerisch als auch beĂ€ngstigend wahrgenommen wird, und dessen Eroberung wir vorzugsweise der Literatur ĂŒberlassen, die diese Erkundungen stellvertretend fĂŒr uns durchfĂŒhrt.Ilse Helbich hat mit Fremde einen ErzĂ€hlungsband geschrieben, der mit dem Blick der 87jĂ€hrigen die Fremde, aber auch das Fremde vermisst: es sind Geschichten, die zusammengenommen die Stationen eines Lebens abtasten, ohne wirklich autobiographisch zu sein. RĂ€tsel und Traumata der Kindheit, beĂ€ngstigende Begebenheiten auf dem Weg zum Erwachsenwerden, Familie und Partnerschaft, und am Schluss das Alter – in all dem werden wir immer wieder mit Fremdem rund um uns, aber auch in uns konfrontiert. Ilse Helbich macht aus diesen so allgemeinen Themen ganz unverwechselhaft eigene, kraftvolle, farbige ErzĂ€hlungen, die niemanden unberĂŒhrt lassen, da sie, jenseits der Idylle und der Kette von Verlusten andererseits, mit der illusionslosen Klarsichtigkeit des Alters geschrieben sind, die nicht einmal mehr der Tapferkeit bedarf.'Ihr helles Leben ist durchsichtig bis zum Grund, wasserklar in seiner AlltĂ€glichkeit und durchatmet von einer ruhigen Heiterkeit', heißt es einmal, und damit sind auch die Texte selber am besten charakterisiert. Helbichs Schreiben ist von einer frappierenden Treffsicherheit, von einer von allem Unnotwendigen befreiten Klarheit, auch wenn es um Dinge geht, die sich im AtmosphĂ€rischen abspielen und sich nicht in eine Sach- und Faktensprache ĂŒbersetzen lassen. Ihre knappe PrĂ€gnanz, die liebevolle NĂŒchternheit, Unerschrockenheit und Dezenz in einem, teilen der/m Lesenden nicht nur einiges mit ĂŒber die Kunst des Schreibens, sondern, mehr noch, ĂŒber die Kunst des Lebens.Textauszug:Manchmal nehmen sie die Enkelinnen mit ins Kino. Nachher haben die beiden viel zu lachen: in den beilĂ€ufigen Bemerkungen und nachher, als sie gelernt hat, auf der Hut zu sein im Kreuzverhör, entdecken die MĂ€dchen, daß die Alte den schnellgeschnittenen Film ja gar nicht verstanden hat. Sie hat einen anderen Film gesehen als die anderen, weil sie aus den Dialogfetzen, die durch ihre Schwerhörigkeit drangen und aus den Bildern, die ihre trĂŒben Augen zu erkennen glaubten, sich ihre eigene Geschichte zusammengedichtet hat, und diese Geschichte scheint den beiden lustiger und vertrackter als die eigentliche. Sie glaubt jedoch im Lachen der MĂ€dchen etwas mitzuhören von dem EinverstĂ€ndnis, mit dem sich die Heranwachsenden noch einmal der Tiefe der MĂ€rchen anvertrauen.Was die MĂ€dchen erheitert, macht jedoch der alten Frau auch Angst, wenn sie am Flußrand lange den großen Vogel beobachtet, der da reglos abwartet – ist also der Wintervogel, der Reiher, schon aus dem Norden gekommen?Sie steht und schaut, und als sie endlich zwei, drei Schritte tut und sich ihr Blickfeld verschiebt, ist es ein schwarzer Baumklotz, der aus dem Wasser schaut.Aber sie sieht auch Himmel in zarten Abendfarben, die sie so nie kannte, und sie sieht feinverwobene Nebelgespinste, wo frĂŒher Äste waren. In einer neuen Welt.Sie weiß nicht, ist sie eine Entfremdete? Oder eine Hineingeborene?Und ihr helles Leben ist durchsichtig bis zum Grund, wasserklar in seiner AlltĂ€glichkeit und durchatmet von einer ruhigen Heiterkeit. Wasserklar.So stört es nicht allzu sehr, daß an manchen Tagen die Knochen schmerzen und an anderen das störrische Herz nicht mehr recht will, dergleichen dringt nicht in die Tiefe. Und Wasser kann man nicht schneiden.