Der livlÀndische Generalsuperintendent Karl Gottlob Sonntag (1765-1827) gehört zu den prominenten Gestalten des baltischen Protestantismus in der Zeit des russischen Kaisers Alexander des Ersten. Er war ein Vertreter des theologischen Rationalismus Herderscher PrÀgung, nicht unumstritten, aber in seiner Geradheit und Wahrhaftigkeit in allen Lagern des politischen und kirchlichen Lebens hoch anerkannt. Auch Pietisten konnten dem souverÀnen KulturtrÀger wie demkonsequenten Vertreter einer aufgeklÀrten Frömmigkeit den Respekt nicht versagen.
Er war ein glĂ€nzender Prediger, ein beliebter Seelsorger, ein Förderer des ânationalenâ Schulwesens, ein unglaublich produktiver Publizist, ein gelehrter Mann auf dem Felde der lettischen, estnischen, deutschen und auch russischen Geschichte der Ostseeprovinzen. Durch seine Forschungen und Editionen ist Kulturgut (z. B. aus der Rechtsgeschichte) bewahrt, fĂŒr dessen Ăberlieferung der heutige Historiker dankbar ist.
Das zivilreligiöse Engagement des kirchenleitenden Lutheraners im deutschbaltischen Kulturkreis einerseits und im russisch-orthodoxen Zarenreich andererseits ist ĂŒber die damalige politische und kirchenpolitische Situation hinaus von Interesse fĂŒr die heutigen ragen nach âReligionskulturenâ und âKonfessionskulturenâ bzw. die historische Bewertung dieser Fragerichtung. Namentlich hinsichtlich der Bauernbefreiung besaĂ das Wirken Sonntags eine bemerkenswerte politische Brisanz, die schon manche Interpretation auf sich gezogen hat.
Dass eine Biographie des Theologen, der freilich die Auswertung eines mĂ€chtigen Quellenmaterials vorausgehen mĂŒsste, immer noch fehlt, ist bedauerlich und anregend zugleich. Die Auswertung insbesondere der im Nachlass bewahrten Korrespondenz dĂŒrfte die Konturen jener Ăbergangszeit zwischen âAufklĂ€rungâ und âErweckungâ deutlicher werden lassen, die wie in Sankt Petersburg so in Livland zu abrupten politischen, kirchlichen und theologischen Wendungen oder âVerwerfungenâ gefĂŒhrt hat.