Dona Alberti sitzt im Rollstuhl, kann ihre Hände kaum noch benutzen, und erzählt einem Aufnahmegerät aus ihrem Leben im Hotel ParaĂso, einem Altenheim, wo sie aus freien StĂĽcken lebt, seit ein banaler Unfall sie ihrer Selbständigkeit beraubt hat. Das sind die Koordinaten von LĂdia Jorges jĂĽngstem und vielleicht persönlichstem Roman.
Die alte Dame erzählt von ihrem Alltag, den Auseinandersetzungen und Freundschaften mit jungen Pflegerinnen und anderen Mitbewohnern, ihrer heimliche Liebe zu einem Mann, der kurz darauf stirbt, ihre nächtlichen Kämpfe mit einem Alter Ego, das ihr schwindendes Wissen herausfordert.
Immer wieder kreisen ihre Gefühle um die schwierige Liebe zur Tochter, einer Schriftstellerin, der sie vorwirft, nur deshalb nicht reich und berühmt zu sein, weil sie vom Elend Namenloser erzählt, anstatt endlich Heldentaten berühmter Menschen zu beschreiben. Der Generationskonflikt mit autobiographischen Zügen wird zum Verhandlungsort einer sozial fundierten Poetik.
Erbarmen wirft ein kritisches Licht auf unsere Gegenwart, vermeidet aber frontale Angriffe und stellt die Leser stattdessen geschickt vor grundsätzliche Fragen: Was ist Wissen in einer Zeit der totalen Verfügbarkeit von Information? Was zählt wirklich im Leben angesichts der Tatsache, dass wir alle dem Tod entgegengehen? Welche Funktion hat das geschriebene Wort in diesem Zusammenhang?
Erbarmen entwickelt einen subtilen Sog, dem man sich kaum widersetzen kann, denn Jorge erzählt meisterhaft von Dingen, die uns alle bevorstehen