Was, wenn Unrecht plötzlich als gut und richtig gilt, und das, was normalerweise höchst kriminell ist, belohnt wird? In ihrem neuen Roman »Am Kornsand« beschäftigt sich Ute Bales mit der Frage nach Schuld und zeigt, dass Schuld individuell ist und persönlich getragen werden muss. Dabei richtet sie den Blick auf das, was Vergangenheit mit Gegenwart macht.
Der Roman umreißt zum einen die Jugend des Hans Kaiser, der sich 18-jährig, angestachelt durch NS-Propaganda, im März 1945 zu einer furchtbaren Tat hinreißen lässt, die er bis 1985 vor seiner späteren Familie geheim halten kann. Zum anderen wird die Geschichte der heranwachsenden Helga erzählt, seiner Tochter, die sich schon als Kind unwohl fühlt in ihrer Haut.
Helga ist elf, als sie wegen eines juckenden Hautausschlags Ende der 1970er Jahre zu einer Kur auf die Insel Föhr geschickt wird. Im Verschickungsheim ist sie vom ersten Tag an der Brutalität der Erzieherinnen ausgesetzt. Auf Föhr bessert sich weder der Hautausschlag noch ihr Befinden. Mit tiefen seelischen Narben kehrt sie nach Hause zurück. Als ihr Vater 1985 vom Stern wegen eines Kriegsverbrechens interviewt wird, kommt eine unfassbare Tat ans Tageslicht. »Wie in Säure getaucht« fühlt sich Helga, hofft auf ein Wort des Vaters. Der aber weicht ins Schweigen aus.
Der Vater, Hans Kaiser, nimmt als Junge begeistert an Zeltlagern und Fackelmärschen der Hitlerjugend teil, stimmt stramme Lieder an und sammelt Fotos ranghoher Militärs. Mit knapp 17 wird er zum Kriegsdienst eingezogen. Er hat Ehrgeiz, will etwas erreichen. Mehrfach ist er zugegen, wenn Menschen erschossen werden und ist schließlich bereit, selbst zu töten. »Wenn ihr dazu zu feige seid, mach ich es eben«, sagt er.
Vergleichen lassen sich die beiden Lebensläufe nur schwer. Er, der Vater, hineingewachsen in eine Zeit, in der Gewalt gesät wird, hörig gegenüber staatlichen Verordnungen und sie, die Tochter, verletzlich und scheu, hineingeboren in vermeintlich gute Jahre, aber geplagt von einem unerträglichen Juckreiz am Körper, der seinen Ursprung in einer Familiengeschichte hat, von der sie lange nichts weiß.
Ute Bales formt aus den beiden konträren Lebensabschnitten ein vielschichtiges dramatisches Zeitbild. Dabei legt sie den Finger in die Wunde einer sowohl historischen als auch persönlichen Katastrophe und beleuchtet neben dem Werdegang des Täters auch die Traumata von Helga, des Täterkindes, das zum Opfer geworden ist.