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Geschichte der Weihnachtsgeschichte

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Die biblischen WeihnachtserzĂ€hlungen sind nicht die News von einst. Sie sind keine Protokollaufzeichnungen, ĂŒber die sich mit der Zeit allenfalls etwas Patina angesetzt haben mag. Sie sind ĂŒberhaupt keine Protokollaufzeichnungen – das mag manchen Zeitgenossen mit einem modernen VerstĂ€ndnis, was Wahrheit bedeutet, noch immer verwundern. Die WeihnachtserzĂ€hlungen sowie die Evangelienschriften insgesamt folgen eigenen Regeln. Diese sind geprĂ€gt von den Idealen antiker Geschichtsschreibung, nĂ€mlich die Wahrheit ĂŒber jemanden literarisch kunstvoll zum Ausdruck zu bringen. Und sie sind zuinnerst geprĂ€gt und ĂŒberstrahlt von dem einen Ziel, Jesus als den Christus zu verkĂŒndigen – auf Basis der ĂŒberlieferten Zeugnisse vom auferstandenen und erhöhten Herrn.

Kapitel 1 stellt den Eigencharakter der Evangelienschriften dar, in deren Mitte die Osterbotschaft steht. Ausgehend vom Zeugnis der ersten Zeugen fĂŒr den Auferstandenen erhĂ€lt die urkirchliche VerkĂŒndigung eine sprachliche Gestalt, die an die Vollendungsgestalt des erhöhten Herrn nicht hinreichen kann, die nicht mehr von dieser Welt ist. Im RĂŒckgriff auf Begriffe und theologische Konzepte aus der eigenen jĂŒdischen Lebenswelt werden Hoheitstitel wie etwa Christus oder Kyrios auf Jesus angewandt. Aus frĂŒhen Osterbekenntnissen etwa bei Paulus entstehen schon bald ausgeschmĂŒckte OstererzĂ€hlungen, welche die Überlieferung vom „sich sehen lassen“ des auferstandenen Herrn bildhaft und erzĂ€hlerisch zum Ausdruck bringen. Von Ostern her erscheint Jesu Leben, Lehren und Wirken in einem neuen Licht. Die neue Textgattung Evangelium schaut aus der Perspektive der Christus-VerkĂŒndigung auf das Leben Jesu und gestaltet diese VerkĂŒndigung in einer erzĂ€hlerischen Form.

Kapitel 2 macht deutlich, welche Bedeutung den beiden ersten Kapiteln des MatthĂ€usevangeliums in der Konzeption der gesamten Evangelienschrift zukommt. Das ganze MatthĂ€usevangelium strebt hin auf das große Finale des erhöh-ten Herrn, dem „alle Macht im Himmel und auf Erden“ gegeben ist (Mt 28,18). Von diesem Fluchtpunkt aus erscheint die Christus-VerkĂŒndigung in das vorösterliche Wirken Jesu rĂŒckgespiegelt. Die beiden ersten Kapitel fĂŒhren wie eine OuvertĂŒre in die Hauptmotive des MatthĂ€usevangeliums ein und stellen Jesus als Abrahamssohn, Davidssohn und Gottes Sohn dar. Jesus ist der Messias, der von David abstammt. Er ist Nachkomme Abrahams, durch den alle Völker der Erde Segen erlangen sollen, und er stammt aus Gott. Kapitel 1 und 2 bieten eine kunstvolle theologische Grundlegung fĂŒr die nachfolgenden Kapitel in erzĂ€hlerischer Form, deren Ziel mit jenem des ganzen MatthĂ€usevangeliums ĂŒbereinkommt: Den Christus-Glauben plausibel von innen her zu begrĂŒnden.

Kapitel 3 zeigt, wie der Verfasser des hellenistisch geprĂ€gten Lukasevangeliums gemĂ€ĂŸ seinem Ansatz das Christus-Bekenntnis in eine nachtrĂ€glich eingetragene Vorge-schichte in Form einer illustrierten GlaubenserzĂ€hlung spiegelt. Die ErfĂŒllung der Heilsgeschichte in Jesus Christus wird ex post aus der Perspektive der Verheißung ausgeleuchtet. Das Christus-Kerygma wird auf diese Weise nicht verĂ€ndert, nicht inhaltlich erweitert, sondern lediglich auf der Ebene der ErzĂ€hlung variiert und illustriert. Dies aber geschieht unter vollem Einsatz der literarischen Kunst antiker Geschichtsschreibung in erzĂ€hlerischer Weise. Die ErzĂ€hlstĂŒcke der Vorgeschichte sind in Form eines Diptychons nach den Prinzipien der ParallelitĂ€t und der Überbietung angelegt: Auf die GeburtsankĂŒndigung des TĂ€ufers folgt die GeburtsankĂŒndigung Jesu; auf die ErzĂ€hlung von Geburt und Namensgebung des TĂ€ufers folgt die entsprechende ErzĂ€hlung ĂŒber Jesus. Die epochale Zeitenwende vom alten Bund im Gesetz auf den neuen Bund in Jesus Christus markiert Johannes der TĂ€ufer, der als VorlĂ€ufer und Herold fĂŒr den Messias dem Anliegen der VerkĂŒndigung Jesu Christi vollstĂ€ndig ein- und untergeordnet wird. Das Lukasevangelium bietet weder historische Zusatzinformationen aus dem Leben Jesu rund um dessen Geburt noch eine Kindheitslegende: Die Vorgeschichte bietet eine einfĂŒhrende Ausleuchtung des Christus-Bekenntnisses, rĂŒckgespiegelt auf die Szenerie der AnfĂ€nge des Lebens Jesu.

Kapitel 4 zeichnet den Fortgang der Rezeption dieser WeihnachtserzĂ€hlungen nach. Grundlegend fĂŒr die nachfol-genden Entwicklungen ist ein verĂ€ndertes VerstĂ€ndnis der Evangelientexte nach den Prinzipien vom mehrfachen Schriftsinn auf dem Hintergrund der Kanonbildung. Aufbauend auf den wörtlichen Literalsinn der Texte erschließt die Methode der Allegorese zusĂ€tzliche geistige Sinnebenen. Das wörtliche VerstĂ€ndnis vorausgesetzt, verrĂŒckt dieses die Mt-OuvertĂŒre und die Lk-Vorgeschichte in der damaligen Wahrnehmung auf die Ebene historischer Information.

Kapitel 5 zeigt den Zusammenhang zwischen dem wörtlichen VerstĂ€ndnis und dem historisierenden Interesse im 4. Jhd., als im Zusammenhang mit der Konstantinischen Wende die Volksmassen zu Christen werden, und ein Para-digmenwechsel hin zum historisch Anschaulichen vollzogen wird. Die Ausgrabungen der heiligen StĂ€tten in Jerusalem und Bethlehem und die dortige historisierende Adaptierung der Liturgie fĂŒhrt zur AusprĂ€gung eines Festes der Geburt Christi, das sich mit den Pilgerströmen in die Ortskirchen des Römischen Reiches ausbreitet. Vornehmlich die politischen UmstĂ€nde fĂŒhren dazu, dass sich der Dezembertermin fĂŒr ein eigenes Geburtsfest losgelöst vom Epiphaniefest in den letzten beiden Jahrzehnten des 4. Jhd. etablieren kann.

Kapitel 6 skizziert die weiteren Entwicklungen im Abendland. Der theologische Paradigmenwechsel z.B. in der Eucharistielehre stĂŒtzt die Wende zum historisch Anschaulichen zusĂ€tzlich, wie etwa die frĂ€nkische vulgĂ€rchristologische Vorstellung von Jesus als dem auf Erden wandelnden Gott-Sohn. Im Mittelalter wird eine inkarnatorisch akzentuierte Christusfrömmigkeit bestimmend, welche aus einer Perspektive der persönlichen affektiven Betroffenheit auf das Leben Jesu Christi blickt. Die Aufmerksamkeit zentriert sich auf Passion und Inkarnation als die Brennpunkte des Heils. Beides wird zum bevorzugten Gegenstand anschaulicher und sogar dramatur-gischer Darstellung. Das Kind in der Krippe wird zum Aus-druck dafĂŒr, wie sehr Gott nahbar geworden ist.

Eine Wiederentdeckung der ursprĂŒnglichen Bedeutung der Evangelienschriften ist möglich geworden auf der Basis enormer Fortschritte der neu entstehenden Geschichtswissenschaften. Kritische Textausgaben auf Basis von FundstĂŒcken sind die Basis, die Entstehung der aus Quellen redigierten Texte nachzuvollziehen und dabei die Gemeindesituation der Verfasser und ihre eigene theologische Perspektive in die WĂŒrdigung einzubeziehen. Insgesamt kennzeichnet die Anwendung derartiger Methoden, nach anfĂ€nglichen Vorbehalten auf katholischer Seite, jenen Ansatz, der als „historisch-kritische Methode“ die Bibelwissenschaft bis heute prĂ€gt.

Weder lĂ€sst sich die Offenbarung Gottes mit den Worten der Schrift fundamentalistisch identifizieren, noch können die kanonischen Schriften losgelöst von ihrer Christus-VerkĂŒndigung reduktionistisch verstanden werden. Die Exegese hat inzwischen einen Stand erreicht, der es möglich macht, den Evangelientexten in ihrer ursprĂŒnglichen Aussage angemessen zu begegnen: sowohl die historischen Bedingungen aus der Entstehung der Texte zu umreißen und theologiegeschichtlich zu wĂŒrdigen, als auch all dies theologisch eigens zu reflektieren und fĂŒr das Leben im Glauben fruchtbar zu machen. Auf Weihnachten fĂ€llt dann nicht nur ein historisch und theologiegeschichtlich geschulter Blick, sondern ein derart gereifter, dass Theologie und Glaube mit der liturgischen Feier eins zu werden vermögen.