Deutschland hat eine dantegleiche Frau und kennt ihr Werk nicht, das Werk der größten Dichterin und Philosophin des deutschen Mittelalters, einer Prophetin und einer Heiligen, der alle Größen ihrer Zeit, Bernhard und Barbarossa, die Kirchenfürsten und weltlichen Fürsten in Ehrfurcht gehuldigt haben, und die so hoch über gemeinmenschliches Maß hinausragt, daß eben dies Übermenschliche bedrückt und scheu macht, an das Geheimnis dieser Persönlichkeit zu rühren und zu fragen, was ihr Werk zu bedeuten hat.
Es ist ein erhabener Augenblick des Mittelalters, in dem diese Weltdichtung vollendet wurde. Mag sie uns auch in vielem herb, manchmal nur allegorisch und moralistisch erscheinen und schwerverständlich für uns sein, die wir so ganz des symbolischen Denkens entwöhnt sind, so ist sie dennoch größer und eindringlicher und echt visionär, anders als Dantes Divina Commedia. Gleichzeitig mit Bernhard, den auch Dante als den höchsten Genius des Mittelalters verehrt, und der wirklich persönlich den Sinn des Mittelalters verkörpert, stand diese deutsche Frau auf, um bildhaft und dichterisch, alles was der deutsche Symbolismus gedacht, zu erleben und zu fühlen und es in apokalyptischer Sprache auszusprechen. Was immer auch die Kunst des Mittelalters unbewußt oder in symbolischer Weisheit vom Sinn dieser Zeit zu sagen und zu gestalten wußte, hier ist in persönlicher Eigenart auf einmal das Ganze gesagt. Mag der Romane Dante formvollendeter am Schluß des italienischen Symbolismus wie Hildegard am Ende des deutschen nochmals ein noch mehr moralisch geschautes Weltbild gegeben haben, schon gesättigt mit der hellwachen Individualität der jungen Renaissance und darum uns leichter zugänglich, das tiefere mythische Bild der Zeit in ihrer furchtbaren und erhabenen Größe und herben Wahrhaftigkeit hat Hildegard gegeben.
Inhalt dieser Ausgabe :
- Der Weg der Welt
- Heilwissen : Die Schrift der Aebtissin Hildegard über Ursachen und Behandlung der Krankheiten