Bahnwärter Thiel, eine Novelle von Gerhart Hauptmann, ist eine ergreifende Erkundung menschlichen Leidens, Isolation und Tragödie. 1888 veröffentlicht, spielt sie vor dem Hintergrund der rauen und unnachgiebigen Landschaft des ländlichen Deutschlands, wo der Protagonist, Thiel, als Bahnwärter arbeitet. Sein Leben ist eine Mischung aus Routine und Einsamkeit, geprägt vom unerbittlichen Rhythmus vorbeifahrender Züge und der Abgeschiedenheit seines kleinen Hauses an den Gleisen.
Thiel ist ein Mann weniger Worte, tief ergeben seiner ersten Frau Minna, die tragisch bei der Geburt stirbt. Er kämpft damit, ihren Sohn Tobias allein großzuziehen, und heiratet erneut, aber seine neue Frau, Lene, steht in starkem Kontrast zu Minna. Lene ist hart und herrisch, und Thiels Leben wird zu einem stillen Kampf zwischen seiner Pflicht und seinen Erinnerungen an Minna. Die Novelle beschreibt Thiels inneren Aufruhr, als er mit seiner Liebe zu Tobias und seinem Gehorsam gegenüber Lene ringt.
Der Höhepunkt der Geschichte ist sowohl unvermeidlich als auch schockierend. Thiel, angetrieben bis zum Äußersten durch Lenes Grausamkeit und den tragischen Tod von Tobias bei einem Zugunglück, verfällt dem Wahnsinn. Thiels Erzählung ist ein kraftvoller Kommentar zum menschlichen Dasein und erkundet Themen wie Verlust, Pflicht und die dünne Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn. Hauptmanns meisterhafte Verwendung des Naturalismus lässt die Charaktere und ihre Umgebung lebendig werden und macht "Bahnwärter Thiel" zu einem zeitlosen und fesselnden Leseerlebnis.
Ort der Handlung ist die Umgebung von Schönschornstein bei Erkner. Bereits im ersten Satz wird die Kirche von Neu Zittau erwähnt. Bahnwärter Thiel ist ein frommer und gewissenhafter Mann, der seit zehn Jahren zuverlässig seinen Dienst erfüllt und jeden Sonntag die Kirche besucht. Ein Jahr nach dem Tod seiner zierlichen Frau Minna im Wochenbett heiratet er eine stämmige Magd namens Lene, damit er jemanden hat, der sein Kind während seiner Arbeitszeit betreut. Zusammen bekommen sie ein zweites Kind, Lene misshandelt Thiels ersten Sohn Tobias nach dessen Geburt zunehmend und vernachlässigt diesen. Thiel, den eine tiefe Zuneigung an seine verstorbene Frau Minna bindet, wird mehr und mehr von seiner zweiten Frau, die das neue Oberhaupt der Familie ist, vereinnahmt. Dass Lene Tobias misshandelt, wird zwar von Thiel entdeckt, er unternimmt jedoch nichts, um seinen Sohn vor seiner zweiten Frau, von der er inzwischen total abhängig ist, zu schützen. Dennoch versucht er Tobias ein guter, fürsorglicher Vater zu sein, indem er viel Zeit mit seinem Sohn verbringt und sich liebevoll um ihn kümmert.
Die angespannte Situation verändert Thiel jedoch und macht aus ihm einen verstörten Mann, der sich immer häufiger in Visionen flüchtet, in denen seine verstorbene Frau die Hauptrolle spielt. Gequält wird Thiel zudem von Gewissensbissen, da er es trotz des seiner Frau Minna gegebenen Versprechens, alles für Tobias zu tun, zulässt, dass Lene das Kind misshandelt.
In seinem einsamen Wärterhäuschen im Wald an der Bahnstrecke Berlin–Frankfurt (Oder) verliert er sich zunehmend in nächtliche Anbetungen an seine Minna, was allmählich krankhafte Züge annimmt. In einer dieser Visionen erscheint ihm ein Bild seiner toten Frau, die sich über den Bahndamm wandelnd von ihm abwendet und etwas in Tücher Gewickeltes mit sich trägt. Seine Seele ist voller Scham über die erniedrigende Duldung seines jetzigen Lebens. Nach Dienstende kann er es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, doch scheinbar sind die quälenden Bilder beim Anblick seines rotwangigen Sohnes wieder verschwunden ...