Blaue Reihe

In seinem neuen Essay ĂŒber menschliche Existenz im SpannungsverhĂ€ltnis zwischen Selbstfindung und Selbstverfehlung fragt Emil Angehrn: Wann sind wir in Wahrheit wir selbst? Wissen wir, wer wir sind und was wir eigentlich wollen? Können wir, sollen wir, wollen wir wahrhaftig sein? Wahrhaftigkeit scheint eine zwiespĂ€ltige Idee. Auf der einen Seite gilt sie unstrittig als positive Wertvorstellung. Ehrlich zu sein mit anderen und mit uns selbst scheint ein Ideal, eine Pflicht, ja ein innerstes BedĂŒrfnis zu sein. Wir wollen mit uns eins sein und offen mit unseren NĂ€chsten, von denen wir ihrerseits LoyalitĂ€t und Aufrichtigkeit erwarten. Wahrhaftig zu sein heißt, unverhĂŒllt unserer selbst gewahr zu werden und authentisch zu leben. Auf der anderen Seite erweist sich Wahrhaftigkeit als fragile, problematische Leitidee. Wir sind unsicher, wieweit wir zur restlosen Klarheit ĂŒber uns fĂ€hig und zur absoluten Offenheit gegenĂŒber anderen bereit sind. Historische Analysen handeln von LĂŒge und Verdeckung als Mechanismen der sozialen Welt. Kulturkritische Diagnosen verkĂŒnden das Ende der Aufrichtigkeit. Auch wenn persönliche IntegritĂ€t als existenzieller Wert hochgehalten wird, bleibt zu klĂ€ren, was sie als Idee beinhaltet, ob sie als Norm gelten darf und wie sie im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft zu verwirklichen ist. Wir sind uns nicht einfachhin zugĂ€nglich, sondern auch fremd. Wir sind nicht ohne Weiteres in der Lage, â€șeigentlichâ€č zu existieren.