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Bhagavadgita: Des Erhabenen Sang

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Die BhagavadgĂźtĂą ist ein philosophisches Gedicht – und nicht mit Unrecht nennt Wilhelm von Humboldt sie „das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben.“ In der Tat ist es wohl das einzige in der Weltliteratur, welches ganz diesem Begriff entspricht, d. h. wirklich philosophisch und doch zugleich ein echtes, von höchstem poetischen Schwunge getragenes Gedicht ist, was sich nicht einmal von dem berĂŒhmten gedankenreichen, aber doch mehr trockenen, philosophischen Gedichte des Lucrez „De natura rerum“ völlig behaupten lĂ€ĂŸt. Daß ein solches Gedicht gerade bei den Indern entstehen konnte, ja entstehen mußte, das begreift sich leicht, wenn man weiß, in welchem Grade dies hochbegabte Volk vor anderen Völkern schon frĂŒh, schon im vedischen Altertum von großen philosophischen Gedanken erfaßt und durchdrungen wird, mit welcher Energie es um die KlĂ€rung und Ausgestaltung seiner Weltanschauung fort und fort ringt, in welcher Ausdehnung hier philosophische Gedanken durch Jahrhunderte und Jahrtausende sich mit den religiösen Vorstellungen verbinden und verschmelzen, aus ihnen erwachsen und sie wiederum bestimmen, ja auch Leben und Handeln bestimmen und beherrschen. Es begreift sich, wenn man zugleich die Kraft der Poesie, die echt arische FĂ€higkeit hochfliegender Begeisterung kennt, die in diesem merkwĂŒrdigen Volke seit alters wirkt und lebt, bald schlummernd, trĂ€umend, bald in hellem Jubel erwachend, mit elementarer Macht aufflammend. Schon aus dem Rigveda tönen uns so erhabene, ergreifende KlĂ€nge philosophischer Poesie entgegen, wie sie jenes berĂŒhmte Lied vom Weltenursprung enthĂ€lt, das mit den Worten anhebt: „Damals war weder Sein noch Nichtsein“ usw. Und dann gleich in den Ă€ltesten Upanishads, vielleicht 7–800 Jahre vor Christo, welche GrĂ¶ĂŸe und Kraft, welche KĂŒhnheit und Klarheit der philosophischen Gedanken und Bilder, mit welchem poetischem Schwung, mit welcher feurigen und stolzen Begeisterung verkĂŒndet! Wie tief lassen uns die schon oft geschilderten philosophisch-theosophischen WettkĂ€mpfe jener Zeit hineinblicken in das leidenschaftliche Suchen und Ringen nach Erkenntnis der Wahrheit, in die Kraft der Begeisterung, mit der die gefundene Weisheit verkĂŒndet wird. Und diese Bewegung der Geister setzt sich fort in der weiteren Upanishaden-Literatur, sie zieht sich durch das große Epos MahĂąbhĂąrata, sie gewinnt im Buddhismus und Jainismus neue Formen, sie kristallisiert sich in den verschiedenen philosophischen Systemen und Kommentaren, sie lebt auch in den GesetzbĂŒchern, sie schimmert und leuchtet in den PurĂąnen und unzĂ€hligen anderen Werken. Und sie treibt die Menschen dazu, der Welt zu entsagen, um nur den großen, ewigen Gedanken zu leben.

Sie erfaßt in der Folge auch die Eroberer, die Herrscher des Landes aus nichtindischem Stamme, zwingt den edlen Prinzen Mohammed Daraschakoh, Krone und Reich der Großmoguln in die Schanze zu schlagen, um fĂŒr die Wahrheit siegend unterzugehen[1]. Sie erfaßt auch die höher gearteten europĂ€ischen Besucher des wunderbaren Landes mit unwiderstehlicher Gewalt. Sie setzt sich fort bis in die Gegenwart, bis zu jenem nackten Heiligen mit dem Gesichte eines alten deutschen Professors, Lehrers oder Pastors, der vor kurzem noch in einem Garten von Benares vor einer Kapelle saß, die sein eigenes Bildnis in Marmor enthielt, und der zu den Bemerkungen lebenslustiger Spötter wohl milde lĂ€cheln und ihnen kopfschĂŒttelnd zuflĂŒstern konnte: „Alles, was uns umgibt, ist nicht Wirklichkeit, sondern nur ein Traum!“[2].