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Die vier Einsiedler

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"In einer Breslauer Weinstube kehrten alle Tage in der stillen GeschĂ€ftszeit von fĂŒnf bis sechseinhalb Uhr nachmittags vier MĂ€nner ein. Andere GĂ€ste waren um diese Zeit nicht anwesend. Jeder der vier MĂ€nner saß an einem besonderen Tische, wie es bei Deutschen ĂŒblich ist." Es sind dies die titelgebenden "vier Einsiedler", und darĂŒber hinaus sehr unterschiedliche Gesellen: Ein deutschnationaler Offizier, Major a. d. von BĂ€rsfeld, Protestant; der Forschungsreisende Dr. Spelt, linksgerichtet und areligiös; der Katholik Dr. Lowinksy, der nicht nur einen polnischen Namen, sondern auch polnische Wurzeln aus den nach dem Ersten Weltkrieg abgetretenen Ostgebieten hat; sowie der berufslose Max Kröcklein, einst Schiffskoch und von niederem Stande, dabei nicht nur religiös reichlich desinteressiert 
 Doch unwillkĂŒrlich kommen sich die vier nĂ€her, und schon nach wenigen Tagen sitzen sie alle an einem Tisch. Als der Major nun seine Wohnung oben im Gebirge in Gießbrunnen verlieren soll, die er nicht mehr bezahlen kann, hat Kröcklein eine verwegene Idee: "Ich dachte nun, wie es wĂ€re, wenn Herr Dr. Spelt, Herr Dr. Lowinsky und meine Wenigkeit sich zusammentĂ€ten, dem Herrn Major sein Haus in Gießbrunnen abmieteten und dort gemeinsame Wirtschaft fĂŒhrten. Wir kĂ€men bei eigener Wirtschaft, meine Herren, sicher mit fĂŒnfzig Prozent ErmĂ€ĂŸigung bei viel besserer Verpflegung aus, als wenn jeder fĂŒr sich im Restaurant speist." Eine eigentĂŒmliche Wohngemeinschaft der vier so verschiedenen Persönlichkeiten entsteht – in der Streit und reichlich Probleme freilich nicht ausbleiben. NatĂŒrlich darf da auch die HaushĂ€lterin nicht fehlen, die sich in der Polin Jascha findet, der besonders Lowinksy bald auch menschlich nĂ€herkommt; wĂ€hrend Hertha, die Tochter des deutschnationalen Majors, ins sozialistische Lager ĂŒberwechselt 
 Paul Kellers 1923 zuerst erschienener und noch heute ĂŒberaus lesenswerter tragikomischer Zeitroman ist ein eindrucksvolles PlĂ€doyer zu VerstĂ€ndigung ĂŒber alle religiösen und politischen Lager und Schichten hinaus – direkt aus den dramatisch unruhigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg, in denen Deutschland Revolution und tiefe Spaltung drohte.

Paul Keller (1873–1932) wurde als Sohn eines Maurers und SchnittwarenhĂ€ndlers geboren. Zwischen 1887 und 1890 besuchte er die PrĂ€parandenanstalt in Bad Landeck und anschließend von 1890 bis 1893 das Lehrerseminar in Breslau. Nachdem er acht Monate als Lehrer im niederschlesischen Jauer tĂ€tig war, wechselte er 1894 als Hilfslehrer an die PrĂ€parandenanstalt in Schweidnitz. Zwischen 1896 und 1908 war er Volksschullehrer in Breslau. Keller grĂŒndete die Zeitschrift "Die Bergstadt" (1912–1931) und schrieb schlesische Heimatromane sowie "Das letzte MĂ€rchen", eine Geschichte, in der ein Journalist in ein unterirdisches MĂ€rchenreich eingeladen wird, um dort eine Zeitung aufzubauen, und dabei in Intrigen innerhalb des Königshauses hineingerĂ€t. Die Namen wie "König Heredidasufoturu LXXV.", "Stimpekrex", "Doktor Nein" (der OppositionsfĂŒhrer) haben wahrscheinlich Michael Ende zu seinem Roman "Die unendliche Geschichte" angeregt. Zusammen mit dem schlesischen Lyriker und ErzĂ€hler Paul Barsch unternahm Keller zwischen 1903 und 1927 zahlreiche Reisen durch Europa und Nordafrika. Zudem fĂŒhrten ihn etliche Lese- und Vortragstourneen durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und die Tschechoslowakei. Er war 1910 Mitglied der Jury eines Preisausschreibens des Kölner Schokoladeproduzenten Ludwig Stollwerck fĂŒr Sammelbilder des Stollwerck-Sammelalbums Nr. 12 "Humor in Bild und Wort". Keller starb am 20. August 1932 in Breslau und wurde auf dem dortigen Laurentiusfriedhof bestattet. – Paul Keller gehörte zu den meistgelesenen Autoren in der ersten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts, was sich in einer 1931 bei fĂŒnf Millionen liegenden Gesamtauflage seiner BĂŒcher widerspiegelt, und wurde in 17 Sprachen ĂŒbersetzt. Schriftsteller wie der alte Wilhelm Raabe oder Peter Rosegger schĂ€tzten den Autor sehr. Gerade die frĂŒheren Werke wie "Waldwinter", "Ferien vom Ich" oder "Der Sohn der Hagar" zeichnen sich durch kĂŒnstlerische Kraft und Meisterschaft aus. Seinen Roman "Die Heimat" (1903) nannte Felix Dahn "echte Heimatkunst". Seine bekanntesten Werke wurden zum Teil auch verfilmt.