Aus der Einleitung:
Was ist der schiitische Islam und was macht sein Wesen aus? Die Beantwortung dieser Frage erfordert einen RĂźckblick in die frĂźhe Geschichte des Islam. Wie sich das Christentum in katholische, orthodoxe oder protestantische Richtungen mit unterschiedlichen Ausprägungen unterteilt, gibt es im Islam zwei Hauptrichtungen: der sunnitische und der schiitische Islam. Es scheint ein Desiderat in Lehre und Forschung der europäischen islamwissenschaftlichen Fakultäten zu sein, dass fast ausschlieĂlich die sunnitische Ausrichtung als Repräsentant des Islam im Ganzen behandelt wird. Genauso problematisch wäre es, wollte man den Protestantismus oder die Orthodoxie stellvertretend fĂźr das gesamte Christentum präsentieren. Ein solches Denkbewusstsein wäre empirisch irrefĂźhrend und normativ problematisch. Im Hinblick auf den schiitischen Islam allerdings zeigt sich eine solche LĂźcke, die es zu schlieĂen gilt.
Freilich gibt es fĂźr die Betonung des sunnitischen Islam in europäischen Ländern eine historische Erklärung, denn die ersten Begegnungen des christlichen Okzidents erfolgten fast ausschlieĂlich gegenĂźber Sunniten. Erste Berichte Ăźber Kontakte zwischen den byzantinischen Christen und dem Hof des Muawiya, später zwischen ihnen und Yasid, ergeben sich aus den Ăberlieferungen des Johannes von Damaskus. Eine zweite Begegnung erfolgte zu Zeiten Omars, des zweiten Kalifen des Islam, während der Eroberung Jerusalems. Sowohl die Dynastie der Omayyaden als auch die der Abbasiden war sunnitisch geprägt. Diese Begegnungstradition setzte sich während der muslimischen Herrschaft in Spanien und der Konflikte europäischer Länder mit den osmanischen TĂźrken fort. ...