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Stationschef Fallmerayer: Dieter Mann liest Joseph Roth

E-book


Stationschef Fallmerayer ist eine ErzÀhlung von Joseph Roth.

Auszug:

Das merkwĂŒrdige Schicksal des österreichischen Stationschefs Adam Fallmerayer verdient, ohne Zweifel, aufgezeichnet und festgehalten zu werden. Er verlor sein Leben, das, nebenbei gesagt, niemals ein glĂ€nzendes - und vielleicht nicht einmal ein dauernd zufriedenes - geworden wĂ€re, auf eine verblĂŒffende Weise. Nach allem, was Menschen voneinander wissen können, wĂ€re es unmöglich gewesen, Fallmerayer ein ungewöhnliches Geschick vorauszusagen. Dennoch erreichte es ihn, es ergriff ihn - und er selbst schien sich ihm sogar mit einer gewissen Wollust auszuliefern.

Seit 1908 war er Stationschef. Er heiratete, kurz nachdem er seinen Posten auf der Station L. an der SĂŒdbahn, kaum zwei Stunden von Wien entfernt, angetreten hatte, die brave und ein wenig beschrĂ€nkte, nicht mehr ganz junge Tochter eines Kanzleirats aus BrĂŒnn. Es war eine »Liebesehe« - wie man es zu jener Zeit nannte, in der die sogenannten »Vernunftehen« noch Sitte und Herkommen waren. Seine Eltern waren tot. Fallmerayer folgte, als er heiratete, immerhin einem sehr maßvollen Zuge seines maßvollen Herzens, keineswegs dem Diktat seiner Vernunft. Er zeugte zwei Kinder - MĂ€dchen und Zwillinge. Er hatte einen Sohn erwartet. Es lag in seiner Natur begrĂŒndet, einen Sohn zu erwarten und die gleichzeitige Ankunft zweier MĂ€dchen als eine peinliche Überraschung, wenn nicht als eine Bosheit Gottes anzusehen. Da er aber materiell gesichert und pensionsberechtigt war, gewöhnte er sich, kaum waren drei Monate seit der Geburt verflossen, an die Freigebigkeit der Natur, und er begann, seine Kinder zu lieben. Zu lieben: das heißt: sie mit der ĂŒberlieferten bĂŒrgerlichen Gewissenhaftigkeit eines Vaters und braven Beamten zu versorgen.