David: Zwei Dinge beherrschen die Landschaft, es sind die TĂźrme und die Gräben. Bei den TĂźrmen unterscheiden sich die KirchtĂźrme von den Wach- und SchieĂtĂźrmen und bei den Gräben sind es zum einen die Gräben der militärischen Verteidigung und zum andern die Gräben zum AuffĂźllen mit erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Es ist das Landschaftsbild der Trostlosigkeit, der Verworfen- und Verlorenheit und der Schande durch die Arroganz und den Mangel an Brot und Menschlichkeit.
Das Stadtbild hatte sich seit der 'Reichskristallnacht' drastisch zum grausamen Erschrecken verändert. Die zerschlagenen Schaufenster wurden verbrettert und mit dem Judenstern oder dem Wort "Jude" beschmiert. Erst mit der Ăbernahme durch einen Arier bekamen die Fenster neue Scheiben. Die Synagoge verblieb im geschändeten Zustand und bot das Dauerbild trauriger Verwahrlosung. Nun war Luise Agnes nur eine HalbjĂźdin, und das arische "Defizit" war ihrem Gesicht, der feinen Nase, dem gekräuselten dunklen Haar und den tiefbraunen Augen anzusehen. Eckhard Hieronymus machte sich Sorgen um die Familie, weil er es bei dem Rassenwahn fĂźr eine Frage der Zeit hielt, dass er von Braunhemden oder den Gestapoleuten in schwarzen Ledermänteln besucht wĂźrde, um ihn auf die beruflichen Konsequenzen hinzuweisen, deren Ursache das Zusammenleben mit einer HalbjĂźdin als Ehefrau ist.
An der weichen Stimme, die aufgrund der diskriminierenden Ereignisse angebrochen war, erkannte er den Kinderarzt Dr. Weynbrand wieder. Sie sahen einander ins Gesicht und gaben sich die Hand, wissend, dass sie verbotene Dinge taten. "Ăch freue mich, dass wir uns noch einmal sehen", begann Eckhard Hieronymus, worauf Dr. Weynbrand erwiderte, dass es wohl das letzte Mal sein werde. "Wie meinen Sie das?", fragte Eckhard Hieronymus. "Wir haben die Mitteilung bekommen, dass wir unsere Sachen packen sollen und uns in fĂźnf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden haben. Von dort werden wir mit unseren Kindern und Kindeskindern abtransportiert."