Das ist eine starke, berührende Geschichte, die Titelgeschichte und zugleich die längste der insgesamt 16 Erzählungen dieses Bandes, wobei sich der ungewöhnliche Titel tatsächlich erst beim Lesen erschließt. Denn was soll „Lamyz“ bedeuten? Dann stellt sich heraus, dass diese fünf Buchstaben nicht nur für eine gewisse Ordnung, sondern auch für eine Art Geborgenheit und für einen besonderen Schutzraum stehen. Denn diese Titelgeschichte ist vor allem auch eine Liebesgeschichte. Ein Junge, ein Jüngling noch von knapp fünfzehn Jahren, der begehrt ein attraktives und nahezu gleichaltriges Mädchen und stellt sich vor, wie er sie erobern würde:
„Hör mir zu, Cilly, du gefällst mir. Ehrenwort. Mir gefallen deine festen, langen Beine, dein schlanker Hals, der so weiß leuchtet, und manchmal dachte ich schon, wenn du tief einatmest, sprengten deine Brüste das enge Mieder, dass die Knöpfe abfallen würden. Und überhaupt, wenn ich dich sehe, nehme ich auch einen Duft wahr. Warum hast du keinen Freund? Wollen wir zusammengehen? Entschuldige, aber das nennt man so. Ich bin stolz auf dich. Wollen wir ins Kino gehen?
Diese Ansprache an Cilly habe ich mir zurechtgelegt. Jeden Tag änderte ich sie, sagte sie mir vor, dachte mir dazu aus, wie sie reagieren, was sie antworten könnte, ob sie überhaupt antworten würde. Ich blieb feige.
Täglich sah ich sie nicht, weil sie in eine andere Schule ging und in einem anderen Stadtteil wohnte, dem altersgrauen Wendelitz, wo die Türme und Mauern noch aus Muschelkalk waren. Natürlich wusste ich, was sie mochte, Schwimmen und Paddeln zum Beispiel, ich kannte ihre Freundinnen und wusste, wo sie wohnte, in der Apotheke, die ihrem Vater gehörte.“
Doch der Junge traut sich nicht und muss erst auf einen Zufall warten, der ihn und das Mädchen zusammenbringt. Allerdings sind die Zeiten der Liebe nicht günstig. Es herrscht Krieg in Europa und der ist dabei, zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren: Zu dieser Zeit näherten sich russische Truppen der Oder. Und der Junge, der sich eine Zukunft mit Cilly vorstellen kann, gerät in schlimme Umstände und sogar in Todesgefahr. Doch dann ist der Krieg aus. Er hat überlebt. Aber was ist mit ihm und mit Cilly?
Auch in den anderen 15 Erzählungen dieses Bandes mit Texten von 1986 bis 1995 geht es um Leben und um den Tod, um Lebenssinn und Menschenpflichten, um Schuld und Unschuld, um Gerechtes und Ungerechtes und nicht zuletzt um die Gewissheit, dass Eulenspiegel und mit ihm der Schalk nicht ausstirbt. Zum Glück.