Eine packende Studie, die dafür plädiert, unseren Blick auf Emotionen, das Gehirn und das Selbst in einen breiteren Kontext zu stellen.
1935 entwickelte ein portugiesischer Neurologe die Lobotomie. Die Operation sollte schwere psychische Störungen lindern, stieß aber in der Fachwelt auf harsche Kritik. Sie brach ein Tabu, weil sie direkt ins Gehirn eingriff und die Persönlichkeit der Patienten veränderte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich das Verfahren jedoch breit durch. Da die Zahl psychochirurgischer Eingriffe schnell zunahm, erschlossen sich auch der Forschung neue Chancen. Nun hieß es, die Lobotomie löse die »affektive Spannung" psychisch Kranker, wirke sogar in »hoffnungslosen Fällen" und entlaste neben der Anstaltspsychiatrie auch die Gesellschaft. Obwohl Experten die Methode schon im Laufe der 1950er Jahre immer skeptischer beurteilten, kam die Ära der Lobotomie erst zum Abschluss, als die Psychiatrie um 1970 zunehmend ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik geriet.
Marietta Meier untersucht die Geschichte eines Behandlungsverfahrens, das körperliche, psychische und soziale Spannungen lösen sollte, gleichzeitig aber grundsätzliche ethische, wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Fragen aufwarf. Sie legt den Fokus auf die Schweiz, nimmt jedoch den ganzen deutsch- und französischsprachigen Raum Europas und dessen Verbindungen zur angelsächsischen Welt in den Blick. Auf diese Weise lässt sich nicht nur zeigen, wie lokale Praktiken, nationale Rahmenbedingungen und internationale Debatten ineinandergriffen. Der vielschichtige Ansatz macht auch klar, wie Subjekt-, Wissens-, Geschlechter- und Gesellschaftsordnung in der Nachkriegszeit zusammenspielten.