In Deutschland wurde Hervé Guibert (1955 – 1991) durch das Protokoll seiner Aids-Erkrankung berühmt, das den provokanten Titel trägt: "Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat" (1991, NA 2021). Doch seine literarische Karriere hatte bereits zehn Jahre zuvor begonnen, mit kleinen, intensiven Erzählungen, die von der Poetik Roland Barthes' und Thomas Bernhards geprägt waren. Zwei dieser Texte verarbeiten Guiberts Beziehung zu Vincent, einem jungen Mann, den er 1981 auf einer Reise durch Marokko kennenlernte und dem er bis kurz vor seinem Tod in einer Art Hassliebe verbunden blieb. Aus Anlass von Guiberts 30. Todestag erscheinen beide Erzählungen nun erstmals zusammengefasst in einem Band.
"Reise nach Marokko" (1982) ist eine experimentelle Tour de force, eine wilde Collage aus fantasierten Orient-Klischees und realen Machtspielchen innerhalb einer kleinen französischen Reisegruppe. Auch wenn dem Bericht eine wirkliche Reise zugrunde liegt, verwebt Guibert beide Textebenen und verwischt damit die Grenze zwischen Erfindung und realem Geschehen. Der Intensität der Amour fou mit Vincent scheint er nur mit dem literarischen Mittel der Autofiktion beizukommen – ein Verfahren, das auch "Verrückt nach Vincent" (1989) zugrunde liegt. Dort lässt Guibert den titelgebenden Protagonisten bei einem Sprung aus dem Fenster sterben, um dann in rückläufiger Chronologie zu erzählen, wie sich die obsessive Urlaubsbekanntschaft in Paris fortsetzt. Das Prinzip der Rückwärtserzählung aufgreifend, steht in dieser Ausgabe der jüngere Text vor dem älteren. So wird "Reise nach Marokko" zur zweifachen Rückkehr – zum Beginn einer verhängnisvollen Affäre und zu den Anfängen einer Schriftstellerkarriere.