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Wie viele Gesichter hat die Angst?

E-book


Tatort Familie. VĂ€ter vergehen sich an ihren Töchtern. MĂŒtter schauen weg. Verwandte und Nachbarn schweigen. Fast 15 Jahre wird Ursula von ihrem Vater, einem Berufssoldaten und engagierten Kommunalpolitiker, sexuell missbraucht und gequĂ€lt. Sie ĂŒberlebt, aber ihre Persönlichkeit zerfĂ€llt. Der Körper kann den Qualen nicht entfliehen, also tut es die Seele. Sie spaltet sich auf. Aus dem einen kleinen Ich wird erst ein zweites, dann ein drittes, ein viertes und ein fĂŒnftes, und ĂŒber die Jahre kommen immer weitere Persönlichkeiten hinzu.

Anfang der 1990er-Jahre erkennt Ursula, dass sie eine multiple Persönlichkeit ist. Zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits mehrere Suizidversuche und Klinikaufenthalte hinter sich. Zusammen mit einer SozialpĂ€dagogin und einer Therapeutin macht sie sich auf, ihr vielfĂ€ltiges Innenleben zu ergrĂŒnden. Es ist ein langer und beschwerlicher Weg. Nur langsam lernen die Innenpersonen, sich gegenseitig zu akzeptieren, miteinander zu kooperieren, ein Wir-GefĂŒhl zu entwickeln.

Mittlerweile hat sich Ursula eine LebensqualitĂ€t geschaffen, die fĂŒr Multiple nicht selbstverstĂ€ndlich ist. Nach wie vor aber ist auch fĂŒr sie jeder Tag eine Gratwanderung zwischen Leben, Überleben und Resignation. Noch immer ist ihr Handicap eines der grĂ¶ĂŸten Tabus in Deutschland. Noch immer haben Multiple keine Lobby. Sie stoßen auf Ignoranz, erhalten kaum UnterstĂŒtzung und verzweifeln an VerstĂ€ndnislosigkeit. Ihr Handicap wird nur selten diagnostiziert. Kompetente Therapeutinnen und Therapeuten sind rar und haben lange Wartezeiten. Eine durchgĂ€ngige Therapiefinanzierung ist nicht sichergestellt. Krankenkassen haben Leistungsgrenzen und ĂŒberlassen die Betroffenen danach sich selbst. VersorgungsĂ€mter, die Opfern unter anderem von sexueller Gewalt nach ihrer Anerkennung nach dem OpferentschĂ€digungsgesetz (OEG) die WeiterfĂŒhrung ihrer therapeutischen Heilbehandlung ermöglichen mĂŒssen, lehnen AntrĂ€ge immer wieder ab, schöpfen sĂ€mtliche Rechtsmittel aus, um nicht zahlen zu mĂŒssen, und zermĂŒrben die Antragsteller systematisch. Betreute Selbsthilfegruppen sind Mangelware. Fundierte Sozialarbeit existiert gar nicht. Traurige Konsequenz: Viele Multiple können nicht arbeiten, leben am Rande des Existenzminimums. Sie können nicht allein einkaufen oder ins Kino gehen. Viele geben auf. Sie bringen sich um oder lassen sich in psychiatrischen Kliniken wegsperren.

Dieses Buch soll dazu beitragen, die Öffentlichkeit fĂŒr die multiple Persönlichkeitsstörung zu sensibilisieren.