Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können.
Silvester war's, der letzte Tag im Jahr. Die meisten Bewohner der großen Stadt hatten am Abend etwas vor, wozu sie noch mancherlei besorgen mußten. So herrschte denn in den Straßen Hochbetrieb. Auf den Bürgersteigen hasteten die Menschen oder drängten ungeduldig aus den überfüllten Bussen, als dürften sie keine Minute versäumen. Daß man sich dabei gegenseitig auf die Füße trat, war ebenso unausbleiblich wie das Geschimpfe. Ein stämmiger Bursche gab dem vor ihm stehenden Mädchen einen Stoß, so daß es beim Aussteigen stolperte und längelang hingeschlagen wäre, hätte ein Mann es nicht aufgefangen. »Na, so ein Flegel!« schimpfte er dem feixenden Jungen nach. »Dem fehlt gehörig eins zwischen die Löffel! Haben Sie sich weh getan, Fräuleinchen?« »Nein, davor hat mich Ihr rasches Zupacken bewahrt. Danke schön.« »Bitte sehr, gern geschehen«, schaute der Mann schmunzelnd in das Mädchengesicht, das da so frischfröhlich aus der Kapuze des Wettermantels lugte. »So was Goldiges drückt man auch noch als Opa gern ans Herz. Guten Rutsch ins Neue Jahr.« »Gleichfalls«, wünschte sie, und dann ging jeder seiner Wege. Der Mann zu seiner Familie, das Mädchen zu seiner Bleibe, die aus einem möblierten Zimmer bestand. »Endlich sind Sie da, Fräulein von Hollgan.