Die vom Berge Latmos ist eine kurze Erzählung von Isolde Kurz.
Auszug:
Der Ingenieur Fritz Westerland, namhaft als Erbauer wichtiger Bahnstrecken in Kleinasien, wollte vor Antritt einer leitenden Stellung in China seine Jugendstadt wiedersehen, die er fast zwei Jahrzehnte grollend gemieden hatte. Um die Vergangenheit mächtiger zu seiner Seele reden zu lassen, verschmähte er es, das Städtchen vom Bahnhof aus zu betreten, wo er gewiß war, auf stimmungsraubende Neuerungen zu stoßen, sondern stieg an einer früheren Haltestelle aus, um über wohlbekannte Bergpfade den Rest der Entfernung zurückzulegen und durch das alte Tor seinen Einzug zu halten.
Nach mehrstündigem Steigen spaltete sich der Weg in zwei zu Anfang fast gleichlaufende Wege, die sich später in weitem Bogen voneinander trennten. Der Wanderer erinnerte sich genau der Stelle, wo es leicht war, sich zu verirren, und wählte mit Bedacht den seinigen. Auf sein Gedächtnis glaubte er sich verlassen zu dürfen, und sein Ortssinn war vorzüglich. Wenn er in der eingeschlagenen Richtung über einen waldigen Bergrücken weg einen flachen, mit Heide bewachsenen Vorsprung erreichte, mußte er die Stadt im Tale mit Kirchturm und mittelalterlichen Mauerresten gerade unter sich sehen. Und eben dies war die Stelle, wohin es ihn am meisten zog, das Stück Heideland mit dem ansteigenden Buchenwald dahinter, war der Schauplatz unvergeßlicher Jugendstunden.