(0)

Besuchszeit

E-book


Bettina ist auf ihre Ă€ltere Schwester Jule nicht gut zu sprechen – auch nicht, als sie bei einem Besuch zu Hause erfĂ€hrt, dass Jule im Krankenhaus liegt:

Die Nachbarin öffnete ihre TĂŒr spaltbreit und sagte, die Eltern seien im Krankenhaus. Heute sei Besuchszeit. Dann drĂŒckte Frau Lutter ihr stumm und mitfĂŒhlend die Hand. Bettina schloss ihre TĂŒr auf und zog sie hastig hinter sich ins Schloss. Frau Lutter redete in die Stille hinein. Auch das war Bettina vertraut. Sie stand mit dem RĂŒcken gegen die Wand gepresst und wehrte sich gegen all ihre Sinne, die signalisierten: Ich bin zu Hause! Aber ich will hier nicht zu Hause sein.

Es schien, als wÀren hundert Jahre vergangen, als sie von dort weggegangen und zu Bella gezogen war, der Zwillingsschwester ihrer Mutter.

Alles hatte mit Albert zu tun, der eines Morgens vor ihr stand und zu ihr sagte: „Ich bleibe bei Jule, ich will mit ihr leben. Bettina, versteh mich doch.“

Und was war bei dem UnglĂŒck geschehen?

Jule sollte auf einer Leiter stehend gegen das Fenster gekippt und keinen Halt gefunden haben. Was hatte sie auf der Leiter gewollt? Warum war sie weggerutscht? Und wo war Albert, als das passierte?

„Jule war betrunken“, sagte der Vater mit gequĂ€ltem Gesicht, und er setzte schnell hinzu, „das war sie in letzter Zeit oft.“

„Sagen die Leute.“ Die Mutter milderte den harten Vorwurf.

Jule war vier Meter tief gefallen. Und bei ihrem Besuch im Krankenhaus kann Bettina sie kaum erkennen.

„Nur fĂŒr ein paar Minuten“, mahnte die Schwester und sah Bettina misstrauisch an.

Bettina schluckte vor Erregung, aber die blieb und drĂŒckte ihr den Atem ab.

Jule spĂŒrte wohl, dass jemand an ihr Bett getreten war. Sie öffnete die Augenlider halb und sah an Bettina vorbei in eine unbestimmte Ferne. Das bilde ich mir doch nicht ein, dachte Bettina. Jule ist wach. Sie lebt. Es geht ihr besser. Jetzt kommt es auf mich an. Ich muss das richtige Wort finden. Jules Augenlider sanken herab, um sich wieder spaltbreit zu heben. Bettina wischte sich mit dem HandrĂŒcken ĂŒber das Gesicht.

In vielen RĂŒckblenden erzĂ€hlt Dorothea Iser von einer Gesellschaftsordnung, die es nicht mehr gibt, von jungen Menschen, die nach Freiheit und nach dem Sinn des Lebens suchen, und von Eltern, die ihnen dabei kaum helfen können.

Es sind recht verworrene VerhÀltnisse zwischen den beiden Schwestern, von denen die Àltere lebensgefÀhrlich verletzt im Krankenhaus liegt. Wer war schuld? Oder ist das nicht die richtige Frage?