Corinna oder Italien (1807) ist ein SchlĂŒsselwerk der europĂ€ischen Romantik, das in Form einer Reiseromanze die Begegnung zweier gegensĂ€tzlicher Charaktere nutzt, um ĂŒber Kunst, Nation und Geschlechterrollen zu reflektieren. Der junge schottische Adlige Lord Oswald Nelvil reist, von SchuldgefĂŒhlen und nordischer Schwermut gezeichnet, nach Italien, um Heilung zu suchen. In Rom begegnet er Corinna, einer gefeierten Dichterin, Improvisatorin und Symbolfigur weiblicher GenialitĂ€t. Ihre erste Begegnung auf dem Kapitol â Corinna wird gerade zur "Königin des Festes" gekrönt â setzt einen Dialog in Gang, der die Handlung trĂ€gt: Oswald begleitet sie durch Rom, Neapel, Florenz und Venedig, wĂ€hrend Corinna ihm die SchĂ€tze antiker Kunst, die Musik Rossinis und die leidenschaftliche italienische Lebensart erschlieĂt.
Die Beziehung bleibt von Konflikten durchzogen. Oswalds PflichtgefĂŒhl gegenĂŒber seinem streng protestantischen Vaterland und Corinnas Wunsch nach kĂŒnstlerischer Autonomie kollidieren. Als Oswald nach England zurĂŒckkehrt und auf Druck seiner Familie die konventionelle Lucile heiratet, zerbricht Corinna an der Entwurzelung â ihr tragischer Tod in Ancona beschlieĂt den Roman.
StaĂ«l entfaltet hier ein Panorama des "NordâSĂŒdâKontrasts": rationales Pflichtethos versus sinnliche KreativitĂ€t. Zugleich verteidigt sie das Recht der Frau auf geistige GröĂe und Selbstbestimmung. Der Roman prĂ€gte die romantische ItalienâBegeisterung, beeinflusste Autoren wie Stendhal und George Sand und bereitete die Idee des Bildungsreisens fĂŒr Frauen vor. Seine Mischung aus Reisebericht, kulturhistorischem Essay und Liebestragödie macht ihn zu einem frĂŒhen interdisziplinĂ€ren Kunstwerk.
Germaine de StaĂ«l (1766â1817), Tochter des Genfer Finanzministers Jacques Necker, war eine der mĂ€chtigsten Intellektuellen Europas. Ihr Pariser Salon vereinte Literaten, Politiker und Philosophen; ihr Kampf gegen Napoleons Zensur machte sie zur Ikone liberaler Opposition. Mit Werken wie De l'Allemagne brachte sie die deutsche Romantik nach Frankreich und legte Grundsteine fĂŒr vergleichende Literaturwissenschaft. Corinna bleibt ihr einflussreichster Roman â ein PlĂ€doyer fĂŒr kosmopolitische Offenheit, kĂŒnstlerische Freiheit und weibliches Selbstbewusstsein.